EINE VORLESUNG DARÜBER, WIE MAN ZUM LESEN ANREGT | ARI SILVA MASCARENHAS DE CAMPOS | 03/03/2017

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Fast ein Roman (1): Eine Vorlesung darüber, wie man Leser begeistern kann.

Schülerinnen und Schüler lesen nicht gerne.
Sie können sich nicht auf den Text konzentrieren.
Literarische Werke sind für unsere Schülerinnen und Schüler zu schwierig.
Anstatt zu lesen, sollten wir uns den Film ansehen!

Dies sind einige der Aussagen, mit denen alle zu tun haben, die mit Bildung arbeiten und sich damit auseinandersetzen müssen, dass es nicht mehr allgemein üblich ist zu lesen. Dieses Phänomen ist nicht neu, aber ein Verständnis dafür zu gewinnen immer noch eine große Herausforderung für Eltern und Lehrkräfte in unserem herausfordernden 21. Jahrhundert.

Das Problem ist, dass wir unsere Schülerinnen und Schüler oder sogar unsere eigenen Kinder mitunter als Nichtleser bezeichnen, die wahren Gründe für ein solches Verhalten aber nicht hinterfragen. Im Gegenteil, wir greifen zum Mittel der Bestrafung, um mögliche eigene Fehler, zu verdrängen oder wir drücken uns vor der Verantwortung, sie wieder als Leserinnen und Leser zu gewinnen. In diesem Sinne hat sich der französische Schriftsteller und Dramatiker Daniel Penac(2) der Herausforderung gestellt, die Gründe für die Abscheu mancher Jugendlicher vor dem Lesen zu verstehen und ein anregendes Werk geschaffen, das sich dem Thema mit der Ernsthaftigkeit einer wissenschaftlichen Arbeit und mit der Leichtigkeit einer zeitgenössischen Erzählung nähert. Aus diesem Grund trägt sein bekanntestes Werk in der pädagogischen Diskussion den Titel „Like a Novel“.

Daniel Penacs Werk ist in vier Teile gegliedert: Geburt des Alchemisten; Wir müssen lesen; Lektüre anbieten; Was lesen wir, wenn wir lesen? Jedes Kapitel befasst sich mit drei grundlegenden Ebenen: Was ist der „Leser“? Was macht jemanden zu einem Leser (Selbststudium)? Und wie schafft man es, dass Leserinnen und Leser dem Lesen treu bleiben? Auf eine sehr pädagogische Art und Weise lehrt er uns, Spuren und Zeichen wahrzunehmen, die für das Verständnis dieser Ebenen wesentlich sind.

Durch die Kombination von pädagogischer Theorie und einigen fiktiven Passagen (daher die Wahl des metasprachlichen Titels) führt Penac uns in die Wahrnehmungsprozesse ein und nennt die üblichen Fehler, die gemacht werden, wenn Lesehindernisse vorhanden sind. Aktionen, die in den unterschiedlichen Lernumgebungen begangen werden wie in der Schule oder im häuslichen Umfeld. Eltern, die ihre Kinder mit all ihrer Autorität auffordern, in ihr Zimmer zu gehen und zu lesen, sind sich nicht bewusst, wie viel Zeit vergangen ist zwischen dem letzten Mal, als sie das Lesen wirklich förderten, und dem Moment, in dem es zur Pflicht wird. Eine Lehrkraft, die eine Lektüre vorschlägt, die angesichts des Umfangs des vorliegenden Buches scheinbar sehr ermüdend ist, kann seinen Lerngruppen durch lautes Vorlesen beweisen, dass die ganze "Mauer", die sie vom Verständnis des Werkes trennt, mit fortschreitender Lektüre zu bröckeln beginnen kann. Und das Beste ist meiner Meinung nach, dass der Autor eine Freiheit in der Beziehung zwischen Buch und Leser vorschlägt, die sich von den äußeren, formalen Regeln löst, die mit dieser Beziehung überhaupt nicht in Verbindung stehen.

Im ersten Kapitel „Geburt des Alchimisten“ zeigt der Autor universelle Ausreden auf, mit denen versucht wird, das Desinteresse am Lesen zu rechtfertigen, z. B. das Fernsehen, das eine der bequemsten Ausreden darstellt, da es eine einzige Handlung voraussetzt - die des Verbots und der Rechtfertigung dafür. Das Fernsehen wird immer als der Bösewicht der Geschichte gesehen; indem es jedoch auf diese Weise kontextualisiert wird (als bloße Stütze für die Erziehenden), soll gezeigt werden, wer die wahren Schuldigen für die fehlende Lust am Lesen bei einem Kind sind. Wer das Licht der Fiktion auslöscht und die Türen für die Welt der Verzauberung schließt, um dafür einen Abgrund an Lesepflicht zu eröffnen, das sind, nach Meinung des Autors, die Eltern selbst. Ihnen fehlt das Verantwortungsgefühl und sie übertragen ihren Kindern diese Verantwortung, sich für das Lesen zu interessieren, ohne dass sie selbst, als Eltern, sie dabei begleiten, daran teilnehmen und damit diesen, manchmal individuellen und isolierten, Akt in eine gesunde Gewohnheit der familiären Gemeinschaft verwandeln. Die starre und fordernde Haltung der Eltern ersetzt, wie Penac es ausdrückt, das positive affektive Bild der Akzeptanz und des Schutzes, das ihre Kinder von ihnen haben, durch ein kaum mehr zu korrigierendes Bild des strengen Richters. Die Zusammenfassung dieses Kapitels ist in dem nachstehenden Auszug zu sehen:

Wir waren Geschichtenerzähler und wir wurden zu Geschichtenerzählern, ganz einfach.
Eh! Das war's...
Das war's... das Fernsehen in den Rang einer Belohnung erhoben... und, als logische Folge, das Lesen auf das Niveau einer Verpflichtung reduziert... sie gehört uns, diese Erkenntnis...

Die Verpflichtungen, die das Kind von seiner eigenen Beziehungswelt entfernen, ganz unabhängig von den Geschichten in den Büchern, die von den Eltern vorgelesen werden, mitunter die einzige Interaktion zwischen Vater und Kind während des Tages (Siehe: Auf dem Weg zu Swann - Marcel Proust(3)), verhindern die Bildung eines Alchemisten, der sich am Universum der Codes, die von der Umgebung und der jeweiligen Epoche geprägt werden, selbst bereichern kann. Stattdessen kann das Kind, in der kreativsten Phase seiner Entwicklung, nicht weiter als bis zur Seite 48 gelangen.

Im zweiten Kapitel, „Wir müssen lesen (Das Dogma)“, beschreibt der Autor die Diskussionen, in denen eine Lektüre erzwungen werden soll, die sich nur den Interessen der Gesellschaft verpflichtet sieht, aber gegenüber den Interessen der Leserin und des Lesers völlig indifferent bleibt. Das Hauptargument des Kapitels basiert auf dem Satz „Es ist notwendig zu lesen...“ angesichts der unterschiedlichen Gründe, die zur Lektüre veranlassen. Unter ihnen möchte ich die folgenden hervorheben: Lesen…

...um zu lernen;
...für einen guten Abschluss im Studium;
...um die anderen besser kennenzulernen.

Diese Reduktion bzw. der Versuch, die wirklichen Gründe für eine Lektüre zu standardisieren, stellt konkrete Ziele für diese Diskussion auf, die das Interesse der Leserschaft rechtfertigen können. Es wird also allgemein davon ausgegangen, dass man mit diesen Argumenten eine Nichtleserin oder einen Nichtleser davon überzeugen kann, sich für das Lesen zu interessieren. Allerdings wird das Wichtigste in der Beziehung zwischen Leser und Buch dabei vergessen. Und das Wichtigste in dieser Beziehung, so Penac, ist die Freiheit.

Die gleiche Freiheit, die wir empfinden, wenn wir in eine Geschichte eintauchen, d. h., wenn wir mit der Zeichenwelt des Werks in Kontakt treten, sollten wir uns auch in der Beziehung zum Objekt „Buch“ nehmen. Aus diesem Grund befasst sich der Autor im letzten Kapitel mit den Regeln, nach denen die Beziehung mit der Welt der Fiktion wiederhergestellt werden kann, die wir bei den ersten Kontakten hatten, an die wir uns erinnern. Erinnerungen an eine Kindheit, die verloren ging, als das, was zunächst eine Eroberung war, allmählich die Spuren einer Tragödie trug. Wenn das Kind lesen lernt (die Eroberung), verliert es seinen wichtigsten Begleiter - denjenigen, der früher an seiner Seite vorgelesen hat und der nun, ohne weiter Verantwortung übernehmen zu müssen, den neuen Leser in seinem Verständnis nach allein seinen einsamen Reisen überlässt und ihn zu einem Leser-Waisen macht (die Tragödie), da seine Eltern immer etwas Wichtigeres zu tun haben werden; so schließt der Autor, wiederum Proust paraphrasierend.

In „Lektüre anbieten“, dem dritten Kapitel des Buches, zeigt uns Penac, wie sehr wir die Zeit als Ausrede nutzen, um nicht zu lesen. Anschließend stellt er Berechnungen an, die tägliche kleine Lesungen auf der Suche nach großen Lesungen (entsprechend dem Umfang des Buches) in kurzen Zeitabständen berücksichtigen. Dieses Kapitel zeigt uns, dass der wichtigste Schritt, um mit der Lektüre eines umfangreichen Werks zu beginnen, darin besteht, es zu öffnen – „le début d'un voyage est dans l'acte de se lever et commencer à marcher - Der Beginn einer Reise ist der Akt des Aufstehens und des Losgehens“(4). Das Beispiel der Lehrkraft im Klassenzimmer taucht auf, in der Hand Patrick Süskinds „Das Parfüm“, große Seiten mit breiten Rändern, die riesig sind in den Augen derjenigen, die dem Lesen skeptisch gegenüberstehen, und eine unendliche Qual versprechen,.

Auf Seite 109(5) greift der Autor dieses Bild auf, um es zu widerlegen: Ein dickes Buch ist ein Ziegelstein. Wenn man die geschilderten Verbindungen löst, wird der Ziegelstein zu einer Wolke.

Im vierten und letzten Kapitel, „Was wir lesen, wenn wir lesen (oder die unumstößlichen Rechte des Lesers)“, schließt Penac mit seinen zehn Richtlinien, die die Beziehung zwischen Leser und Buch durchdringen.

1 - Das Recht, nicht zu lesen
2 - Das Recht, Seiten zu überspringen
3 - Das Recht, ein Buch nicht zu beenden
4 - Das Recht auf Wiederlesen.
5 - Das Recht, alles zu lesen.
6 - Das Recht auf Bovarismus – auf völlig freie Einbildungskraft.
7 - Das Recht, überall zu lesen.
8 - Das Recht, hier und da einen Satz zu lesen.
9 - Das Recht, vorzulesen.
10 - Das Recht zu schweigen.

In Leitlinie Nummer 10, die der Autor als seinen Favoriten bezeichnet, ist das Maximum aller Beziehungen festgelegt. Was intim ist, sollte nicht kommentiert werden. Und wenn wir mit etwas in Berührung kommen, das uns dazu bringt, Bereiche unseres Wesens zu offenbaren, die durch die Anforderungen der täglichen Beziehungen geschädigt sind, kommen wir mit dem Intimsten in uns selbst in Berührung. Die Entscheidung, ob man sich äußert oder nicht, liegt allein beim Leser.

Kurzum, Daniel Penac hinterlässt uns mit seinem Werk eine wichtige Lehre: Je mehr das Lesen als Pflicht angesehen wird, desto weniger wird es uns gelingen, unsere jungen Menschen zum Lesen zu bewegen. dass Lesen nicht nur eine Gewohnheit ist, sondern vor allem ein Moment des Vergnügens, in dem die Beteiligten die Freiheit haben müssen, sie selbst zu sein; und vor allem gilt, dass man Leserinnen und Leser zwar nicht erschaffen, wohl aber inspirieren kann und sollte. Wenn der Akt des Lesens zu einer kollektiven Praxis wird, dann werden in die nachfolgenden Gespräche die in diesem Moment mit dem erzählerischen Universum gemachten Erfahrungen einbezogen. Auf diese Weise lebt eine gute Geschichte viel länger und vervielfältigt sich dadurch, dass ihre Bewunderer, Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren neuer Werke darüber sprechen.

Ari Silva Mascarenhas de Campos - Anmerkungen zur Lektüre.

Hochschulabschluss und Lizenziat in Literaturwissenschaft, Postgraduiertenstudium in Literaturwissenschaft (2010), Doktorand in Vergleichenden Literaturstudien der portugiesischen Sprache (FFLCH- USP), Master in Vergleichender Literatur der portugiesischen Sprache (FFLCH- USP) und mit Erweiterung durch die Fakultät für Philosophie, Literatur und Geisteswissenschaften (FFLCH-USP) in Vergleichenden Literaturstudien der portugiesischen Sprache (2010). Autor der Bücher Fruto Vermelho (2008), Contempoemidade (2011) und Segundos (2014). Mitarbeit an der Ausgabe und Verfasser des Nachworts des Buches „Bala com Bala“.

(1) Originaltitel: Comme um roman- Edittions Gallimard, 1992.

(2) Daniel Pennacchioni (Casablanca, 1. Dezember 1944) ist ein französischer Schriftsteller und Dramatiker. Für seinen autobiografischen Roman „Schulschwierigkeiten“ erhielt er 2007 den Renaudot-Preis.

(3) Du côté de chez Swann ist der erste Teil von Marcel Prousts Hauptwerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) aus dem Jahr 1913.

(4) Der Beginn einer Reise ist der Akt des Aufstehens und des Losgehens. Übersetzung: Leny Werneck

(5) Brasilianische Ausgabe - 2003.

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