Wer ein Wort nicht gut sieht, der kann auch eine Seele nicht gut sehen. – Fernando Pessoa
Jeden Tag werden wir in verschiedenen Situationen mit mündlichen und schriftlichen Texten konfrontiert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, z. B. wenn wir in einer Großstadt mit dem Bus fahren, ein Formular ausfüllen, in sozialen Netzwerken schreiben und lesen, eine Straße ausfindig machen, Nachrichten im Fernsehen hören und mit anderen über alles, was in der Welt passiert, diskutieren. Kurz gesagt, wir leben in einer gebildeten und modernen Gesellschaft voller grafischer Symbole! Dies macht uns zu Bürgerinnen und Bürgern.
In dem Film "Die Erzähler von Javé" geht es um eine Gruppe von Einwohnern, die ein wissenschaftliches Dokument verfassen müssen, um den historischen Wert eines Ortes zu beweisen, der von den Wassern eines Staudamms überflutet werden soll. Aber diese Gemeinschaft besaß Keine Schrift!!! Durch die Begegnung mit dem Briefträger, der über Fähigkeiten verfügt, die ihm ein gewisses soziales Prestige verleihen, zeigt uns der Film, dass die Figuren, obwohl sie Analphabeten sind, lesen und schreiben können, dass sie eine Vorstellung davon haben, wie die Aufzeichnung sein sollte, dass sie eine strukturelle Vorstellung vom Text haben, die ihnen bei der Komposition hilft, und dass sie sich in dieser Weise als Bürger fühlen.
Neulich fragten mich einige Schüler im Unterricht: "Frau Lehrerin, sollten Analphabeten eigentlich wählen?" Ich fand diese Frage traurig! Scherzhaft habe ich geantwortet, dass dies kein Thema für eine Debatte sein sollte. Das Hauptaugenmerk sollte doch auf dem Analphabetismus liegen. Schließlich kann der Einzelne, auch wenn er nicht lesen kann, die Gesetze einhalten, die sozialen Rechte achten, zum Schutz der Natur und des öffentlichen Erbes beitragen.
Die Autorin Magda Soares, eine Expertin auf dem Gebiet des Erlernens des Lesens und Schreibens, erörtert in ihrem Buch “Letramento: um tema em três gêneros – Lesen und Schreiben: Ein Thema auf drei Ebenen“: „[…] Ein Mensch, der in die soziale Praxis des Lesens und Schreibens einbezogen ist, wird damit auch Teil der schriftlichen Welt, selbst wenn er Analphabet bleibt.“ Dies zeigt, dass es kaum ein Nullniveau der Schriftsprache gibt, da eine Person vielleicht nicht alphabetisiert ist, aber dennoch lesen und schreiben kann und somit ein soziales Gepäck an Wissen mitbringt.
Die Alphabetisierung beginnt sehr früh und endet nie. Es gibt kein vollständiges Niveau, das erreicht werden kann, es gibt keinen Zielpunkt. Paulo Freire spricht in etwa so in seinem Buch „Pädagogik der Autonomie“ über das Wissen, dass es unfertig ist, dass der Mensch ewig unvollendet bleibt. Deshalb liegt die Verantwortung für das Erlernen des Lesens und Schreibens nicht nur bei den Lehrkräften der portugiesischen Sprache oder überhaupt im Fachbereich Sprachen, sondern bei allen pädagogischen Fachkräften, die mit der Bearbeitung von Texten arbeiten, auch Lehrkräfte für Geografie, Mathematik und Naturwissenschaften. Die Lernenden lesen und schreiben in ihren Lehrwerken und machen sich Notizen. Dabei handelt es sich um eine ganz spezifische Lese- und Schreibfähigkeit für jeden einzelnen Wissensbereich.
Alphabetisierung ist ein Konzept, das uns allen bereits sehr vertraut ist und das untrennbar mit der Lese- und Schreibfähigkeit verbunden ist. Es handelt sich um Konzepte, die sich ergänzen, das eine ist ein Bestandteil des anderen. Alphabetisierung bedeutet, das Kind zur Beherrschung der Technik des Schreibens anzuleiten und es zur Ausübung sozialer Praktiken zu führen, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
Es ist eine Tatsache, dass es in unserem Land eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die nicht die notwendigen Kenntnisse erworben haben, um den Anforderungen einer Bildungsgesellschaft gerecht zu werden. Der Index des funktionalen Analphabetismus, bei dem der Einzelne nicht in der Lage ist, einfache Texte zu verstehen, bietet ein besorgniserregendes Bild, insbesondere wenn man noch den Anteil der absoluten Analphabeten hinzurechnet. Analphabetismus ist die größte Ausgrenzung, die einem Menschen widerfahren kann.
Der humanisierende Charakter der Literatur zum Beispiel, der die Menschen andere Welten kennen lernen lässt, der ihren Horizont erweitert, wird von einem Analphabeten niemals erreicht werden. Analphabeten haben Schwierigkeiten, ihre Kommunikations-fähigkeiten zu verbessern und Wissen aufzubauen, was ihre intellektuelle Entwicklung behindert. Sie werden keine Seele gut sehen, um die Überschrift dieses Artikels zu wiederholen. Sie werden nicht weniger Staatsbürger sein, aber sie werden weniger auf die Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte vorbereitet sein und der soziale Aufstieg bleibt ihnen möglicherweise verwehrt.
Wenn man Bürgern die Lese- und Schreibfähigkeit vorenthält, ist das gleichbedeutend damit, dass man ihnen die Chance verwehrt, im Leben voranzukommen. Wer in einer Gesellschaft, in der man lesen und schreiben kann, die Grundlagen des Schreibens nicht beherrscht, steht am Rande der Gesellschaft. Darüber hinaus gibt es einen psychologischen Aspekt des Analphabetentums, der in dem Film "Der Vorleser" sehr gut dargestellt wird: Der Zuschauer sieht die Hauptfigur in der ersten Hälfte des Films, ohne zu merken, dass sie Analphabetin ist. Sie versteckt ihr Analphabetentum aus Stolz und Scham, gerade weil die Gesellschaft sich als übergroße Bürgerin präsentiert und dabei die Kultur ohne grafische Symbolik diskreditiert. Die Alphabetisierung gehört so zu einem der wichtigsten Prozesse bei der Bildung des Menschen.
Während ich diesen Text schreibe, erinnere ich mich an ein Dankeschön, das Professor Leandro Karnal in einer Vorlesung an seinen Alphabetisierungslehrer richtete. Ich spiele damit auf die Rede von Professor Karnal an! ´Ich konnte schon lesen und schreiben, als von Alphabetisierung noch keine Rede war, da dieser Begriff in Brasilien erst Mitte der 1980er Jahre aufkam. Meine Lehrerin in der ersten Klasse verwendete die Silbenmethode und eine Fibel, damals den “Caminho Suave”, die bekannteste in unserem Land. Ob gut oder schlecht, realitätsfern, aus dem Zusammenhang gerissen, was auch immer, sie gehört zu den guten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe. Ich bin dieser Lehrerin zu Dank verpflichtet! Sie gab mir, ohne Zweifel, in chronologischer Reihenfolge, das beste Geschenk, das ich im Leben bekommen habe, nach dem Leben, das ich von meinen Eltern bekommen habe. Ich wurde weder von der Gesellschaft noch von mir selbst ausgegrenzt!`